Auf sonnengefluteter Lichtung durchwandert eine junge Frau das hohe Gras, lässt es sanft durch ihre Finger gleiten. Liebkosend knüpft sie zarte Bande mit der Natur, verschmilzt mit ihr als Blume unter Blumen. Weich ihre Haut, sonnig golden ist ihr Haar. Ihr Shirt ist kurz, erzählt von Freiheit, kleidet sie in blütenweiße Pracht. Inmitten des Grüns, so üppig wie die Fülle selbst, regt aus leichtem Schlaf noch trunken sich die zarte Knospe, wendet sich zum Licht, der Sonne zu. Unbeschwert voll ausgelass‘nem Frohsinn atmet sie des Lebens Überfülle als Kind der Erde eins mit der Natur. In jeder Bewegung, die unbedacht, intuitiv, spiegelt sich die Leichtigkeit des Seins. Das Tor zur Welt, das steht ihr offen, gewährt ihr Einlass, lässt sie schau‘n die Herrlichkeit des im Vergehen begriffenen Moments.

So ist auch uns ein Einblick in solch ungewohnte Welt gewährt, die Menschen treffen lässt auf seltsame Objekte, fremd und doch vertraut. In der die Dinge ihre Form verändern, überirdische Gestaltenwandler sind. Ein Blinzeln, ein Seitenblick, ein unkonzentrierter Moment und irritierend sonderliche Wesen sind Teil der surrealen Szenerie. Auf einmal ist da dieses fremde Etwas, das sich regt und windet, die Oberfläche vom schäumenden Saum pulsierender Wellen bewegt. Schwerelos steht es still in der Luft, harrt und zaudert, ist in optischer Verwandtschaft überzogen mit der Anmutung menschlicher Haut. Befreit von der Schwerkraft schwebt es als technoider Pionier zwischen Raum und Zeit, bewegt sich suchend vor, zurück, gleicht einer Sonde, die mit größter Sorgfalt menschliches Sein kartiert.

Das Wesen nähert sich der jungen Frau, beginnt sie zu umkreisen in faszinierend tänzerischem Spiel. Ein Mustern, ein Kennlernen und Erkunden folgt, getrieben von der Neugier, von zarter Erotik erfüllt. Unbedarft wie Kinder, die einander unbestimmt erforschen, sich spielerisch vorwärts tasten ohne sich tatsächlich zu berühren. Die Linse, suchend, wird zu unserem Auge, lässt unseren Blick verharren auf der Begegnung, die zwischen Anziehung und Abstoßung changiert. In wohlwollender Betrachtung erkennen wir, die aufgebaute Spannung zwischen Mensch und Ding entlädt sich nicht, katalysiert sich in den Zwischenraum, bleibt gefangen, hängt dort knisternd in der Luft. Im Hintergrund ein Wald, der die Szene mit hohem Tannensaum begrenzt, einen dunklen Kontrast zur hellen Lichtung schafft. Drohend baut er die Kulisse für das unbeschwerte Treiben, weist auf die Zukunft hin, in deren Möglichkeiten beides liegt, Utopie wie Dystopie, und die doch nur eins ist, ungewiss.

Wir wandern weiter und treffen auf Menschen, die sich aneinander reiben, sich anschmiegen, so verschieden sind und in der Berührung doch eins. Sind umgeben von Körpern als Teilen choreographierter Harmonien, die in fließender Bewegung zueinander finden, eng umschlungen wie im Tanz vereint. Unser Blick wandert durch eine Glasscherbe, die die Körper in Teilstücke fragmentiert, das Sehen verwässert, das Geschehen in milchig-weißen Nebel hüllt. Weich in der Betrachtung legt sich Unschärfe auf das Bild, schiebt sich ein Schleier vor das Auge, verbindet sich mit tranceähnlicher Musik. Es entstehen feine Risse, die sich zu scharfen Kanten formen, sich dann erneut zusammenfügen wie Teile eines aus Körpern erbauten Mosaiks. Das Glas lässt den Außenraum bis tief ins Innere dringen, bricht die Realität, nimmt Spiegelungen, Lichtreflexe auf. Bis wir erkennen, dass fremde Körperteile wie Prothesen als künstliche Verlängerungen weitere Finger bilden und erst in der tastenden Berührung das Unbelebte lebendig wird.

Julie Favreau: „Will Deliquesce“, 2018, Video Still. Foto: Schwartzsche Villa/ Julie Favreau.

Die kanadische Künstlerin Julie Favreau dringt mit ihrer spezifischen Ästhetik in unser Unterbewusstsein vor, gibt uns das Gefühl von rätselhafter Vertrautheit und kreiert eine seltsame Intimität. Immer wieder ertappen wir uns selbst wie wir zögern, wie wir abwägen, unsicher sind, uns schließlich fallen lassen und im Fall bemerken, dass wir im Freiflug auf unsere eigenen Abgründe hin zurasen. Ihre Bilder wirken als könne man sie anfassen, sie berühren und be-greifen. Verschwommen wie Erinnerungen, die scharfkantige Ränder besitzen und uns durch deren Prisma in die ferne Realität längst vergangener Tage blicken lassen. Einzig, dass diese Scherben der Erinnerung, intime Erlebnisse, in denen wir schwelgen und versinken möchten, stattdessen Teile von Zukunftsvisionen sind, nie Geschehenes und doch so real. Fast sehnsüchtig lassen wir die Bilder so nah an uns heran, dass ihre Kanten uns verletzen könnten und träumen die dunkle Ungewissheit gleich mit. Favreau lässt uns mit ihnen ein Stück Freiheit atmen, lässt uns unbeschwert wie Kinder die Welt genießen, sie spielerisch erfahren. Gedankenräume werden begehbar und träumerische Visionen befreien uns aus dem Korsett unserer festgefahrenen Ich-Konstruktionen, unserer verschämten Körperlichkeit. Jeder kann alles sein in der Welt von Favreau, Identitäten werden fluide, jeder ist einzigartig und in der Berührung doch mit allem verknüpft.

Favreaus Werke betrachten die Welt auf neue, bisher ungekannte Weise. Ihr Blick ist tastend, vorsichtig und doch energetisch geladen voll knisternder Erotik. Dabei findet sie eine visuelle Sprache der Erotik jenseits des pornographischen Blicks. Ihre Sicht ist weiblich, gefühlvoll, sinnlich, nie obszön. Nacktheit wird bei Favreau zu neuer Normalität, ist mit nichts Schamhaftem assoziiert. Ihr Interesse gilt der Erforschung von Berührungen, der Freisetzung erotischer Kraft und der Anknüpfung an im Begehren liegenden Wissensspeichern. Ihr Blick gründet auf einer ungewöhnlichen Langsamkeit, die sich der harten Eindeutigkeit patriarchaler Prinzipien verwehrt. Nie ist ihre Bildsprache flach, sondern stets lyrisch, als würde man mit den Augen die Körper abtasten, ihre Wärme spüren, sich geborgen und verstanden fühlen. Erst aus diesem Gefühl heraus bricht Favreau mit der Ästhetik, bringt Störfaktoren ein, offensichtlich leblose Dinge, deren menschliche Anmutungen irritierend sind. Die technoiden Objekte sind uns fremd und doch Teil von uns, schmiegen sich an unsere Körper, verlängern unser Sein. Was ist Körperlichkeit in einer durch Technologie bestimmten Welt? Was zeichnet Sinnlichkeit, Spiritualität aus? Favreau hüllt uns in eine warme Decke des sanften Begehrens, nur um scheinbar widerstrebende Positionen wie Zärtlichkeit und Technologie zu vereinen. Sie findet zu neuer Körperlichkeit, verbindet sich ergänzende Sphären, die einander brauchen und entsprechen. Der Mensch ist bei ihr stets in Bewegung, Neuem gegenüber aufgeschlossen, performativ im Sein. Als Hüter „alter“ Werte wie Spiritualität ist er beidem zugewandt, der archaischen Kraft des lebenspendenden Feuers ebenso wie der Revolution des Alltags mittels neuer Technologien. Das eine als aus dem anderen resultierend, beides Teil des Menschen.

Julie Favreau: „Blobs for Monday“, 2020, 325 x 310 cm, Acryl Marker. Julie Favreau: „Monday“, 2018, 60 x 75,7 cm, Inkjet Druck. Foto: Julia Stellmann.
Julie Favreau: „Blobs for Monday“, 2020, 325 x 310 cm, Acryl Marker. Julie Favreau: „Monday“, 2018, 60 x 75,7 cm, Inkjet Druck. Foto: Julia Stellmann.

Technologie erlangt hier eine ureigene Kraft, löst sich aus den Fesseln der menschlichen Vorherrschaft und doch lässt uns Favreau dem dunklen Zweifel anheimfallen, ob die technoiden Wesen es vermögen, aus sich selbst heraus Sinnlichkeit zu entwickeln oder ob sie diese nur spiegeln. Existiert eine technologische Sinnlichkeit parallel zu menschlicher Nähe? Oder üben sich die Geräte nur in perfektionierter Nachahmung? Was ist natürlich und was künstlich? Die schöpferische Kraft des Menschen haucht ähnlich wie die Berührung Gottes bei Michelangelo den kalten Wesen Leben ein. Künstliche Intelligenz ist als ausgelagertes inneres Organ Teil des Menschen und löst sich zugleich durch immer komplexere Lernprozesse zunehmend von diesem ab. Der Titel der Ausstellung „Bonds“ spielt mit dieser Ambivalenz zwischen Ge- und Verbundenheit. Sind es Fesseln oder Bande, die uns mit Technologien im Zeitalter fortschreitender Digitalisierung verbinden? Und wer zwingt wem die Fesseln auf?

Die Geräte sind anziehend und abstoßend zugleich. Wollen sie berühren? Wollen sie berührt werden? In ihrer formvollendeten Perfektion sind sie kalt und leblos. Der Mensch ein Störfaktor, der seine Fingerabdrücke auf gläserner Hochglanzoberfläche hinterlässt. Aufgrund dessen Folien oder Schutzhüllen anbringt und das Gerät an sich nie wirklich berührt. Zugleich werden die Geräte fortschreitend sinnlich erfahrbar, indem wir mittels intuitiver Bedienoptionen wie Wisch-Gesten mit unseren Smartphones in zärtlichen Dialog eintreten. Künstliche Intelligenz befeuert die schon immer vorhandene Faszination für den Maschinenmenschen und lässt diesen in greifbare Nähe rücken. Durch den Drang nach Selbstoptimierung nähert sich der Mensch der Maschine an, genauso wie Maschinen durch Lernprozesse immer humanoidere Oberfläche erhalten. Was kennzeichnet menschliche Identität mit dem Blick auf eine fortschreitende beiderseitige Annäherung von Mensch und Maschine? Lässt Maschinenlernen die Geräte nicht auch auf gewisse Weise menschlich werden? Oder ist es das nicht Messbare, das Magische, Beseelte, das den Menschen auszeichnet? Hybride Formen menschlichen Seins werfen die ganz großen Fragen auf und lassen uns darüber sinnieren, wann Leben beginnt und wann ein Wesen nur biomorphe Masse ist. Dabei bedient sich Favreau nicht des Mittels der Dekonstruktion, konfrontiert uns nicht mit fragmentierten, anonymisierten und verfremdeten Körpern, sondern wählt einen konstruktiven Ansatz im Sinne eines erweiterten Menschenbilds. Der Mensch muss vielleicht als solcher neu gedacht werden. Als Mensch, der die Grundfeste seiner selbst im Fortschritt anstelle des Stillstands bewahrt.

Julie Favreau: „Our collection“, 2020, 60 x 145 x 212 cm, Inkjet Druck auf Epson Textil, Stahl, Silikon, Gummi, gefundener Stein, Polymer-Ton, Epoxy Paste, Stoff. Julie Favreau: „Will Deliquesce“, 2018, Video Still. Foto: Julia Stellmann.

Die zarte Ästhetik der Bilder durchzieht das gesamte Werk Favreaus und spiegelt sich auch in den fragilen Installationen wider, in welchen sich die Formen und Materialien der in den Videos auftretenden Objekte wiederholen. Als Gesamtwerk lässt uns Favreaus Oeuvre in eine umspannende Erzählung eintauchen, die unsere Sinne aktiviert und uns den Körper als Kommunikationsinstrument bewusst erfahren lässt. In einem ambivalenten Wechselspiel von Nähe und Distanz, von Intimität und Befremden, lauschen wir der Ode an die Sinnlichkeit und warten voll Spannung auf das nächste Kapitel in Favreaus Erzählung.

Nach dem Erhalt eines Stipendiums am Künstlerhaus Bethanien 2017 stellt nun die Schwartzsche Villa in Berlin-Steglitz das Werk der in Berlin lebenden Künstlerin Julie Favreau aus. Ihre Arbeiten fügen sich in das internationale und medienübergreifende Profil des Hauses und bilden mit ortsspezifischen, installativen Arbeiten kuratiert von Dr. Christine Nippe einen Geheimtipp in der Kulturlandschaft Berlins. In der derzeitigen Situation aktueller denn je, erhalten sie besondere Relevanz, wenn technische Geräte als Mittel der Wahl zur Überwindung von Distanz und Isolation in der Pandemie genutzt werden. Julie Favreau ist sich sicher, die Pandemie öffnet ein kurzes Zeitfenster für wirkliche Veränderung, die heute beginnen muss, damit wir morgen in gelebter Utopie erwachen.

„Julie Favreau – Bonds“: bis 11. Oktober 2020 in der Schwartzschen Villa, Grunewaldstraße 55, 12165 Berlin. Geöffnet: Mo–So 10–18 Uhr. Eintritt frei.

Titelbild: Julie Favreau: „This Thing“, 2019, Video Still. Foto: Schwartzsche Villa/ Julie Favreau.

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