Verheißungsvoll öffnet sich die Tür zum Kaninchenbau meines eigenen Unterbewusstseins. Betrete die Bühne und werde bereits erwartet. Wer ist es, der mich dort empfängt? Helles Licht fällt in mein Inneres, wirft lange Schatten bis weit hinunter, dorthin wo Dunkelheit alle Schatten verschluckt. Mit jedem Schritt, jeder Tür, die ich durchschreite, steige ich tiefer hinab bis auf den Grund meiner selbst. Sehne mich, einen Blick hinter den Vorhang auf das marmorne Bildnis von Sais zu erheischen und bin zugleich voller Furcht vor dem, was sich unter dem Schleier verbirgt. Mir ist, als ob ich wachend schlafe. Fühle mich beobachtet und beobachte mich selbst, wie ich traumverloren durch fensterlose Korridore wandle. Jedes Ende ist ein neuer Anfang, jeder Ausweg nur ein Eingang in mich selbst. Hohe Decken herrschaftlicher Herrenhäuser senken sich zu engen Tunneln, tief hineingegraben in den Untergrund. Ich fröstle und bin gleichsam angezogen von seltsam fremden Gestalten, deren dunkle Präsenz sich wie ein Schatten auf mich legt. Gesichtslose Geschöpfe, unter deren Maske kein Antlitz sich verbirgt.


Immer weiter steige ich hinab in labyrinthische Gänge eines unterirdischen Baus, die Wände rücken näher und Stück für Stück dringe ich tief in die Erde hinein. Schreite vorüber an einer Larve, vollkommen verpuppt, glänzend schwarz wie mit Teer überzogen. Was lauert im Innern? Mir scheint als bäume, als wölbe sich eine fremde Kreatur unter der augenscheinlich reglosen Oberfläche.
Gefangen im Kriechgang der eigenen Psyche stoße ich in verborgene Räume meiner Seele vor. Fühle mich seltsam enttarnt als ich mein Innerstes aufgebahrt sehe, klinisch seziert, in Bestandteile aufgegliedert. Was ist es, das all das zusammenhält? Ich trete heran, um den Funken zu ergründen, das Lebendige im Innern zu erfassen und schrecke zurück als sich mir das Geheimnis des Geistes nicht offenbart. Jede Frage, die ich stelle, birgt eine Vielzahl von Antworten. Jede Antwort, die ich erhalte, wirft weitere Fragen auf.

Im diffusen Dämmerlicht, das flackernd mir den Weg weist, ängstige ich mich die Decke möge herniederstürzen und mich unter ihr begraben. Still ist es hier, der Stollen schluckt jedes Wort. In dämmriger Tiefe stoße ich auf ein Haus, das schwarz verkohlt gleich einem Meteor vom Himmel gestürzt scheint und unweit seitwärts aus dem Boden ragt.


Vorsichtig trete ich ein und sehe mich selbst, immer und immer wieder gespiegelt bis in die Unendlichkeit hinein. Erdrückt von meiner eigenen Präsenz suche ich nach einem Ausweg und finde ein Guckloch, welches mir Ausblick in dunkle Flure gewährt, mein Auge folgen lässt einer sinistren Existenz. Erschrocken vom Blick nach außen, der doch ein weiteres Mal nach innen gerichtet war, weiche ich zurück, stolpere rücklings aus dem wie Gestein in die Höhe strebenden Himmelskörper, der dennoch unterirdisches Zwielicht in sich birgt. Kinderlachen dringt an mein Ohr von weiter Ferne, glockenhell und plötzlich stumm, verklingt sogleich als ich mich nähere.


Hinter rotsamtenem Vorhang will ich nach der Wahrheit suchen, will endlich den Schleier niederreißen, der sich trübend vor meine Augen gelegt. Trete ein, voll Furcht das mystische Bildnis nun zu enthüllen, das okkulte Geheimnis zu offenbaren. Dunkel ist’s im Herzen der Wunderkammer, in der eine Frau, reglos hinter schwarzem Schopf verborgen, vor ihrem Spiegelbild verharrt. Es dauert einen Augenblick bis ich begreife, dass auch mein Antlitz ungesehen bleibt und dem nicht genug, denn ich entbehre eines jeden Gegenstücks. Wer aber bin ich ohne Spiegelbild? Bin ich denn nun in dieser Welt auch existent?
Schwarze Flammen züngeln an meiner Seelenfeste. Dunkle Feuerinbrunst wütet und brennt sie nieder bis aufs Fundament. So durchschreite ich eine Ruine, wo einst Stein auf Stein lag sauber aufgetürmt. Versengte Grundmauern, der Dachstuhl eingestürzt, doch fest verschlossene Türen, blinde Fenster haben sich geöffnet und gewähren Durchschlupf aus hohler Löcher Dunkelheit. Auf schlafzerwühlte Laken leg ich mich nieder und erwache aus einem lichten Traum in die nachtwandlerische Realität.


Der Bildhauer Simon Schubert (*1976) lädt den Besucher der Ausstellung „Schattenreich“ im Museum Morsbroich mit einer installativen Raumarbeit, welche die gesamte Grafiketage umfasst, als eine Art „Alice im Wunderland“ zu einer Reise in sein eigenes Unterbewusstsein ein. Ein holografischer Türgriff gewährt den Zutritt zu einer in sich geschlossenen, fantastischen Welt, welche der Künstler über Jahre hinweg aus seinen Papierarbeiten heraus entwickelt hat. Das wachsende, fiktive Gebäude erinnert dabei an die wuchernden Architekturkomplexe Gregor Schneiders.

Der Besucher wird von einem weißen Hasen im Kittel empfangen, der sich in wohnzimmerähnlicher Atmosphäre in entspannter Haltung niedergelassen hat. Den Reisenden bereits erwartend, sitzt er mit überschlagenen Beinen und mustert den Eindringling in aufmerksam therapeutischer Manier. Der Raum ist mit wenigen Ausnahmen komplett in Weiß gehalten und besticht durch die bei näherer Betrachtung plastische Qualität der ebenfalls weißen Bilder an den Wänden. Reliefartige Faltarbeiten – präzise wie Zeichnungen – erschließen mit virtuosen Kniffen, Kanten und Falzen aus Papier die Untiefen der imaginären Architektur parallel zum verwinkelten Raumkonzept. Mittels gezielt platzierter Spots entstehen durch Lichteinfall auf das alternierend konvexe und konkave Spiel der weißen Oberfläche Schattenbilder, welche die eigentliche Darstellung erst zum Vorschein bringen. Das Zwielicht wird zum bestimmenden Element der künstlerischen Formsprache und etabliert sich zugleich als darstellungswürdiges Motiv. Über die Rahmen hinaus breitet sich das weiße Papier auf die Wände aus, bildet die Wandvertäfelung und kriecht bis in alle Spalten des Raumes hinein. Der Bildträger löst sich aus der Zweidimensionalität, beginnt, sich aus dem Korsett der Fläche zu befreien und emanzipiert sich schließlich in der Dreidimensionalität des Raumes. Der Hase markiert und begleitet dabei den Übergang aus der Fläche in den tatsächlichen Raum, welchen der Besucher gemeinsam mit dem Künstler vollzieht.

Schritt für Schritt begibt sich der Besucher in die verzweigten Tiefen des Kaninchenbaus und trifft auf immer weitere suggestive Rauminszenierungen. Weite Raumfluchten lassen hier und dort die Tiefe der fiktiven Welt erahnen. Mal wird der Ausstellungsraum durch einzelne fragmentierte Knochen – präsentiert wie Reliquien – dominiert, mal finden sich vor einer realen Tür zwei verkantete Rahmen, die miteinander verschmelzen und keinen Anfang, kein Ende besitzen. Gleich einer Tür mit doppeltem Boden, die in einen imaginären Raum Zutritt bietet. Überall finden sich Türen, Fenster, mal real, mal surreal, die Einblick in neue Denkräume gewähren und Assoziationen zu den verworrenen Perspektiven eines M.C. Escher wecken. Jedes ausgestellte Objekt wird zu einem Teil des atmosphärischen Interieurs.



Neben den Faltbildern formen Graphitarbeiten die Ausstattung an den Wänden der feudalen Innenarchitektur. Schubert arbeitet dabei mit Graphitpulver, mit dem er weiche sfumatoartige Übergänge schafft, die sogar Spiegelungen und Lichteinfall imitieren. In einem der Räume, gepaart mit der Plastik eines schwarzen Hauses, das aus seinem Sockel herauszuwachsen scheint, zeigen die Graphitbilder das Interieur desselben. Im nächsten Raum verändert sich die Atmosphäre schlagartig und die Graphitarbeiten sind plötzlich von Flammen beherrscht. Das Haus steht nunmehr auf einem Sockel, getürmt aus losen Steinen. Mit leeren, hohlen Fenstern droht es einzustürzen, erweckt den Anschein, als sei es von innen her ausgebrannt. Schubert wechselt hier zwischen den Szenerien, lässt uns von der fast monochrom weißen Umgebung in vertraute Gefilde von Räumen mit weißen Wänden und Parkettboden wechseln, nur um das fiktive Gedankengebäude in Form der realen Keramik des Hauses in Flammen aufgehen zu lassen. Dabei zeigt Schubert nicht das Ereignis an sich, sondern immer einen Zustand, der eine gewesene Präsenz impliziert.



Die Räume wirken steril, kühl und üben dabei auf paradoxe Art und Weise eine Faszination des Unheimlichen aus. Die weiße Schattenwelt des Simon Schubert wird zudem durch geisterhafte Figuren bevölkert. Beim Durchwandern der Räume treten anthropomorphe Gestalten wie aus dem Nichts hinter dem Besucher hervor. Den Körper aus schwarzen Federn geformt, die irisierend grünlich schimmern und eine schemenhafte Silhouette bilden, die aus Asche geboren scheint. In opalisierendem Federkleid steht dem reisenden Betrachter ein Zwischenwesen gegenüber, ein Wesen des Zwielichts, des Schattenreichs. Die Figuren besitzen jedoch nie die Funktion einer Belebung der Szenerie, sondern verstärken vielmehr den Eindruck von Einsamkeit und Isolation.
Schuberts fiktives Gebäude wird begehbar und schafft traumartige, surreale Bilder, die eine Vielzahl an Bezügen aufweisen. Das monolithisch aufragende Haus mit Veranda inmitten des mit Pappe gedämmten Durchgangsraums stellt einen Nachbau von Edgar Allan Poe’s Cottage dar.¹ Die sterile Raumschiffästhetik der lang gezogenen Galerie im Herzen der Ausstellung erinnert an jene von Kubrick’s „Odysee im Weltraum“. Hier liegt aufgebahrt eine verkapselte Gestalt, wie von erstickendem Teer überzogen, ein Alien in schwarz glänzendem Sarkophag. Daneben eine Art humanoides Selbstporträt in distanziert, kühler Manier, bestehend aus den chemischen Bestandteilen eines menschlichen Körpers in diversen Laborgefäßen. Immer wieder führen Passagen in verborgene Räume, erinnern Sequenzen an Filmszenen von David Lynch. Überall doppelte Böden, perspektivisch verzerrte, optisch erweiterte Räume. Eindeutig ist die Referenz zu René Magrittes „Reproduktion verboten“ aus dem Jahr 1937, ein „portrait manqués“ nach Colinet, über welches Jonathan Miller in seinem 1966 erschienen Artikel „On the face of it“ befindet, dass eine Person ohne Gesicht jeglicher Identität beraubt ist.

In einer Ode an das Zwielichtige begegnet der Besucher im Schattenreich des Simon Schubert immer wieder sich selbst und den Vorstellungen des eigenen Ichs, die radikal hinterfragt werden. Die kühle Darstellungsweise wirkt anziehend und lässt den Betrachter sogleich zwischenzeitlich erschaudern. In einem immersiv erfahrbaren Raumerlebnis begibt er sich auf eine ungewisse Reise in die verborgenen Räume des eigenen Seins. Verführerisch lockt der Künstler den wandelnden Traumreisenden aus süßem Schlaf in die alchemistische Wunderkammer. Diese entpuppt sich jedoch als Kuriositätenkabinett, als Spiegelkabinett der eigenen Seele, in welchem der Schlafwandler, im Traum zu Bewusstsein gelangt, sich in seine Bestandteile zergliedert sieht und mit der Aufgabe sich selbst wieder zu einem Ganzen zu fügen schaudernd erwacht.

¹ Vgl. Emslander, Fritz: Simon Schubert. Schattenreich, in: Simon Schubert. Schattenreich (Ausst.-Kat. Leverkusen, Museum Morsbroich, 12. Oktober 2019 bis 17. Mai 2020), Wien 2019, S. 346.
Titelbild: Blick in die Ausstellung „Simon Schubert. Schattenreich“ (Sitzungsraum), 2019, Museum Morsbroich Leverkusen. Foto: Nadine Preiß.