Das Foto zeigt von der Decke herabhängende Abgüsse von menschlichen Beinen.

Nie wurden die Bruchstellen unserer Gesellschaft augenscheinlicher als dieser Tage. In einer Zeit, die unser Selbstverständnis, unsere Lebensgewohnheiten, unsere vertraute Normalität radikal umgestürzt und die Gesellschaft kollektiv in die Krise geführt hat. Das Jahr 2020 stellt eine Zäsur, einen Umbruch im Fortlauf der Geschichte dar und wird die Welt wohl dauerhaft verändern.

Umso passender ist daher die kürzlich eröffnete Ausstellung „Umbruch“ in der Kunsthalle Mannheim, die bereits vor der Krise konzipiert wurde und deren Beginn sich aufgrund der Umstände um einige Monate verzögert hat. Der Titel „Umbruch“ bezieht sich dabei in vielerlei Hinsicht auf die Kunsthalle selbst, die einen kritischen Blick zurück auf die eigene Geschichte, auf den derzeitigen Zustand unserer Gesellschaft und in die Zukunft wagt.

Bruch mit dem Gestern

Vor knapp 100 Jahren eröffnete 1925 in der Kunsthalle Mannheim die Ausstellung „Neue Sachlichkeit“ unter der Leitung des damaligen Direktors Gustav Friedrich Hartlaub. Als erste Zusammenführung der Werke von Künstlern der Neuen Sachlichkeit war die gleichnamige Überblicksschau stilprägend für die junge Kunstrichtung, die sich der realitätsnahen Darstellung der ökonomischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit verschrieben hatte. Im nüchternen Stil mit sachlicher Bildsprache setzten sich die Künstler mit den Themen ihrer Zeit auseinander, die ebenfalls eine Zeit des Wandels war und deren Bruchstellen aus dem ersten Weltkrieg sich in den Folgejahren zu unüberbrückbaren Gräben ausweiten sollten. Mit dem dunklen Schleier der Vorahnung blicken wir heute auf die Ausstellung zurück und stellen fest, dass ausschließlich Künstler der Neuen Sachlichkeit präsentiert wurden, nicht jedoch Künstlerinnen, die es sehr wohl gab und die zu dieser Zeit ähnlich erfolgreich wie ihre männlichen Künstlerkollegen waren.

Die Kunsthalle Mannheim fördert die in Museumsdepots verschwundenen Werke dieser zum Teil fast vergessenen Künstlerinnen heute wieder zutage und präsentiert drei künstlerische Positionen, welche die historische Ausstellung 1925 nicht revidieren, sondern eine gedankliche Ergänzung zum damaligen Konvolut vornehmen sollen. Hanna Nagel, Anita Rée und Jeanne Mammen waren drei sehr unterschiedliche Künstlerinnen, deren Lebenswege sich jedoch angesichts der durch tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen bedingten Brüche in vielerlei Punkten ähneln.

Anita Rées (1885–1933) Malerei beispielsweise ist von einem klaren formalen Stil geprägt. Zunächst an der Darstellung von Landschaft und Architektur interessiert, wird Mitte der 20er Jahre das Porträt zu ihrem bevorzugten Motiv. In altmeisterlicher Lasurtechnik orientiert an traditionellen Kompositionsschemata der Frührenaissance entstehen zahlreiche neusachliche Porträts.

Dieses Bild zeigt eine Frau im Profil auf rotem Untergrund.
Anita Rée: „Profilkopf auf Rot / (Bertha?)“, vor 1929, Öl auf Pappe, Berufliche Schule Uferstraße, Hamburg. Foto: Julia Stellmann.

Im Bildnis von Hildegard Heise, welches 1927 von der Hamburger Künstlerin angefertigt wurde, hebt sich die helle Haut der Porträtierten auffällig leuchtend vom monochrom schwarzen Hintergrund ab. In strenger Frontalität, mit zurückgekämmtem Haar und Gesichtszügen von herber Schönheit blickt die dargestellte Frau den Betrachter direkt an. Trotz der schematischen Komposition und der nüchternen Darstellungsweise erhalten wir Einblick in die Gefühlswelt der Hildegard Heise. In ihren Augen spiegelt sich eine Anmutung von Traurigkeit, lässt sich ein melancholischer Glanz ausmachen. Kaum merkliche Brüche, leise Zwischentöne geben eine Ahnung von der Persönlichkeit Heises. Ihr Ausdruck changiert zwischen Stärke und Verletzlichkeit, wirkt erst in der feinsinnigen Unbestimmtheit bestimmt. 

Dieses Porträt stellt einen weiblichen Kopf in strenger Frontalität dar.
Anita Rée: „Bildnis Hildegard Heise“, 1927, Öl auf Leinwand, Hamburger Kunsthalle. Foto: Julia Stellmann.

Nach ihrer Übersiedlung 1932 von Hamburg nach Sylt machen der Künstlerin zunehmend Depressionen sowie weitere gesundheitliche Probleme zu schaffen. Aufgrund dieser und nicht zuletzt wegen ihrer jüdischen Herkunft entscheidet sich Anita Rée zum Ende des Jahres 1933 ihr Leben zu beenden.

Das Jahr 1933 bedingt ähnlich tiefe Zäsuren auch im Leben der anderen beiden Künstlerinnen. Das Schaffen der Heidelberger Künstlerin Hanna Nagel (1907–1975) setzt sich so intensiv mit der Lebenswirklichkeit von Frauen auseinander wie kaum ein anderes künstlerisches Oeuvre der Zeit. Ihr zeichnerisches Werk ist schonungslos, teilweise düster, fast karikierend. Furchtlos adressierte Nagel Themen wie das Verhältnis von Mann und Frau, die Mutterrolle und deren Vereinbarkeit mit dem Beruf sowie Abtreibung und Selbstmord. Als „neue Käthe Kollwitz“ gab sie den noch immer durch Mann und Kinder fremdbestimmten Frauen ihrer Zeit eine Stimme. Mit den politischen Umwälzungen 1933 werden ihre Werke jedoch illustrativer und es gelingt ihr auch infolge der NS-Zeit nicht mehr an frühere Erfolge anzuknüpfen.

Die Aquarelle von Jeanne Mammen (1890–1976) sind keineswegs düster, haben nichts Schockierendes und sind trotzdem kontrovers. Ihr Sujet ist das pulsierende Leben in der Großstadt, das bunte Treiben in den Straßen Berlins. Ihre Werke sind zugespitzt in der Darstellungsweise, zeigen das urbane Leben der Bohème genauso wie das alltägliche Elend der Armen, der Verlierer der Stadtgesellschaft. Zwischen Federboa und Bubikopf feiern ihre Werke das neue Selbstbewusstsein der Frau und die bunte Vielfalt des Lebens, indem Themen wie die gleichgeschlechtliche Liebe unter Frauen zum darstellungswürdigen Motiv erhoben werden.

Umbruch im Heute

Der zweite Teil der Ausstellung fungiert als Mittelteil, als schwenkbares Glied zwischen gestern und heute. Als Verbindungselement zeigt die Kunsthalle zwei Videoarbeiten von Clément Cogitore und Masar Sohail. Die Arbeiten der beiden Künstler feiern kulturelle Vielfalt und bieten oftmals marginalisierten Gruppen ein Forum. Der französische Künstler Clément Cogitore (*1983) bringt in seiner Videoarbeit „Les Indes galantes“ aus dem Jahr 2017 das gleichnamige Opernballett aus dem frühen 18. Jahrhundert mit zeitgenössischen TänzerInnen zusammen und übersetzt die barocken Klänge in die heutige Zeit. Die TänzerInnen bilden dabei einen Kreis, in dessen Mitte sich wechselnde AkteurInnen gegenseitig zu Dance Battles herausfordern. Die Stimmung ist aufgeheizt, die Umstehenden johlen und rufen, filmen die Kontrahenten mit ihren Mobiltelefonen. Diese bewegen sich im Rhythmus der Musik, lassen sich von ihr tragen und interpretieren sie mittels des Streetdance Krump auf vollkommen neuartige Weise. Je mehr das Orchester und die Stimmen der SängerInnen anschwellen, desto aufbrausender, dynamischer wird der Tanz. Immer mehr AkteurInnen betreten das Innere des Kreises, reißen das aufgebrachte Publikum mittels des furiosen Tanzes auf dem Vulkan mit und steigern sich bis hin zur Ekstase.

Clément Cogitore: Les Indes galantes“, 2017, Produktion: Opéra national de Paris.

Der Tanzstil Krump entstand in den 1990er Jahren in Los Angeles als Zeichen des Protests gegen Rassismus, Diskriminierung und soziale Ausgrenzung. Probleme, die auch heute noch eine wichtige Rolle für Menschen mit Migrationshintergrund spielen, insbesondere mit Blick auf die Pariser Banlieue. In der Pariser Oper, wohl einem der elitärsten Orte der Stadt, wird diesem Konflikt durch Cogitore Sichtbarkeit verliehen, eine Bühne im Herzen des Establishments gegeben und die Konfrontation beider Welten schließlich innerhalb von Dance Battles ausgetragen. Die AußenseiterInnen der Gesellschaft treten zwar exponiert in Erscheinung, sind jedoch als geschlossene Gruppe deutlich abgetrennt von den BesucherInnen der Oper. Diese wiederum bleiben nach der Aufführung entweder mit einem Denkanstoß zu mehr gesellschaftlicher Inklusion zurück oder verlassen die Oper nach ihrem geistigen Ausflug in die Ausdrucksformen der sozial Ausgeschlossenen so wie sie gekommen sind – gefangen in ihrer eigenen Welt.

Aufbruch ins Morgen

Der dritte und abschließende Teil der Ausstellung präsentiert drei ortsspezifisch raumgreifende Installationen von drei zeitgenössischen Künstlerinnen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund.

In einem der Räume finden wir uns in einem Wald aus bunten Baumstämmen wieder, die wie Teile eines Glockenspiels von der Museumsdecke herabhängen und in stetiger Bewegung kaum merklich vor und zurück schwingen. Wie selbstverständlich laden die skulpturalen Gebilde zum Versteckspiel ein, zum Durchstreifen und Berühren. Erst auf den zweiten Blick lassen sich menschliche Anmutungen ausmachen, körperliche Merkmale wie Knie in der Struktur der Rinde erkennen. Dann erst tritt ins Bewusstsein, dass der Wald aus herabhängenden Stämmen ein Wald aus Beinen unterschiedlicher Ausformung ist, die statt aus Holz aus Polyurethan gefertigt sind. Ein Bruch, der unerwartet kommt, der uns erschreckt und gleichsam belustigt. Der Wald wird plötzlich zu einem Zauberwald, einem magischen Ort, der uns auf eine Reise zu uns selbst mitnimmt.

Das Foto zeigt von der Decke herabhängende Abgüsse von menschlichen Beinen.
Kaari Upson: „Mother’s Legs“, 2020, Polyurethan, Pigment, Metall, Kunsthalle Mannheim. Foto: Julia Stellmann.

Die amerikanische Künstlerin Kaari Upson (*1972) ruft mit ihrer Arbeit Kindheitserinnerungen wach. Sie birgt Bilder, die tief im Innern eines jeden verschüttet liegen aus der Dunkelheit des Unterbewusstseins und holt sie durch das vertraute Gefühl des Versteckens hinter übergroßen Beinen an die lichte Oberfläche. Dementsprechend wirft „Mother’s Legs“ (2020) einen Blick in das Innere des Betrachters und der Künstlerin selbst, die in einem sozialen Brennpunkt in Los Angeles mit einer deutschen Einwanderin der Nachkriegszeit als Mutter aufwuchs. Ihr Werk löst in unmittelbarer Abfolge abwechselnd positive und negative Gefühle aus, wenn die bunten Beine in einem Moment die intime Vertrautheit oft berührter, fast vergessener Erinnerungen schaffen und im nächsten in das unheimliche Gefühl, einen Wald aus leblosen Extremitäten diverser Schaufensterpuppen betreten zu haben münden.

Der nächste Raum gibt den Blick auf filigrane Konstruktionen, zeltartige Gebilde frei, ein Sammelsurium an Dingen unterschiedlichster Materialität. Die chinesische Künstlerin Hu Xiaoyuan (*1977) montiert in ihrer Werkserie „Spheres of Doubt“ (2020) Bestandteile illegaler Bauten chinesischer Wanderarbeiter zu fragilen Assemblagen, die uns die spartanische Lebensweise der Arbeiter vor Augen führen. Durch vielfältige Bearbeitung der Gegenstände, Eingriffe in deren Oberflächenstruktur, macht die Künstlerin zeitliche Abläufe, die Vergänglichkeit der Dinge sichtbar.

Das Foto zeigt eine Installation bestehend aus diversen Materialien.
Hu Xiaoyuan: „Spheres of Doubt II“, 2020, Rohseide, Tusche, leichter Betonstahl, meereserodierter Kalkstein, Holzstab, Jade, Keramikbecher, Zitrone, Granatapfel, Kristall, Glas, Fischluftblase, Kunststoffschöpfer, Stahlbecken, Taubenei, Sprühflasche aus weißem Eisen, Holzsattel, Zement, Fäden, Beijing Commune. Foto: Julia Stellmann.

Gleich einem Kokon umspannt halbtransparenter Stoff die Fundstücke. Tusche durchdringt den Stoff, hinterlässt kalligraphische Muster und legt sich auf die ursprünglichen Maserungen. Die ausgestellten Gegenstände, teils vergängliche Objekte, sind dabei einem ständigen Prozess unterworfen, in dem die Zeit ihre Spuren unaufhörlich in die äußere Beschaffenheit der Dinge einschreibt. Die seidene Hülle erhält die ursprüngliche Form, erzählt von einem Zustand, der längst vergangen ist. Was ist real? Was ist Abbild? 

Zu sehen ist ein hölzerner Balken auf einer filigranen Stahlkonstruktion.
Hu Xiaoyuan: „Spheres of Doubt II“, 2020, Betonstahl, Holz, Beijing Commune. Foto: Julia Stellmann.

Im letzten Raum lädt ein Teppich aus bunten Quadraten zum Experimentieren, zu gemeinsamer Kreativität ein und korreliert mit der Grundstruktur der barocken Quadratestadt Mannheim. Die deutsch-türkische Künstlerin Nevin Aladağ (*1972) ruft mit dem eigens für die Kunsthalle konzipierten „Resonanz Raum“ (2020) die Ästhetik von Proberäumen auf. In jeder Ecke des Raumes findet sich je ein Instrument, ein fantastisches Gebilde, das zum Musizieren einlädt. Jedes einzelne erzeugt Klänge, deren Vibrationen sich auf die Wände übertragen und den Raum, das Museum, nicht zuletzt die Stadtgesellschaft als Ganzes zum Klingen bringen. Ein Klangteppich legt sich über die Stadt, wenn heimische MusikerInnen die Instrumente gemeinsam in Schwingung versetzen und die Vielfalt kultureller Einflüsse ins klangliche Gewebe einflechten.

Die Ausstellung markiert nicht zuletzt einen Neubeginn, einen Umbruch innerhalb des Museums selbst. Entsprechend der äußerlichen architektonischen Neugestaltung des Hauses leitet „Umbruch“ unter der neuen Führung von Johan Holten eine innerliche Neujustierung der programmatischen Ausrichtung ein. Mitten im von Vielfalt geprägten Mannheim verortet, versucht die Kunsthalle an aktuelle Veränderungen anzuknüpfen und die Stadtgesellschaft stärker zu integrieren. Das dieser Tage viel beschworene „Museum für alle“ als Ort der kulturellen Vielfalt und des inklusiven Dialogs soll in der Kunsthalle Mannheim zu neuer Realität finden. In diesem Kontext fällt auch die digitale Strategie des Hauses auf, die als Ergänzung des Spektrums des bestehenden Vermittlungsangebots ein Experimentierfeld für neue Diskursplattformen sowie offenen Austausch bietet und der zunehmenden Heterogenität der Besucherschaft gerecht wird.

Blick in die Ausstellung „Umbruch" in der Kunsthalle Mannheim.
Blick in die Ausstellung „Umbruch“ in der Kunsthalle Mannheim. Foto: Julia Stellmann.

Des Weiteren macht die Kunsthalle Mannheim mit „Umbruch“ ihre Anbindung an aktuelle Diskurse sowie ihre Offenheit gegenüber neuen Perspektiven auf veraltete Strukturen deutlich. Das Museum soll als multikultureller Schmelztiegel zum Resonanzraum aller sozialen Gruppierungen werden und das Prinzip einer übergreifenden Prozessorientierung als Leitgedanken strukturell verankern. Die Lust am Prozess, am Unvollendeten wird auch im Hinblick auf die Ausstellungsarchitektur sichtbar. Gerüste, Rampen, Podeste veranschaulichen das Unfertige, das im Umbruch begriffene, diskursive Museum. Die Ausstellung stellt nicht nur einen Bruch mit konventionellen Denkmustern wie der scheinbaren Unumstößlichkeit des historischen Kanons dar, sondern wagt auch den Aufbruch in eine neue Zeit, in der die Dinge nicht mehr nur aus ihrer Historie heraus Bestand haben. Die Kunsthalle Mannheim tritt an, um Utopien nicht mehr nur zu denken, sondern diese tatsächlich zu leben.

„Umbruch“: bis 18. Oktober in der Kunsthalle Mannheim, Friedrichsplatz 4.

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