Gleich einem Traumbild erblicke ich eine Treppe mit blutroten Stufen aus lichtem Stoff. Frei schwebend führt dabei Stufe um Stufe durch enge Korridorwände nach oben, durchbricht das rot gefärbte Himmelszelt. Stoffbahnen, versatzstückartig angelegt, verdecken den Blick auf die Welt dort oben und geben in ihrer Zartheit doch eben jenen frei auf ein rot gedämpftes Licht, dessen Schein den Raum erahnen lässt. So möchte ich die Treppe betreten, möchte den ersten Schritt wagen, doch kann ich es nicht. Denn die erste Stufe schwebt ein Stück über dem Boden. Jeder Schritt – sei er noch so vorsichtig – ließe den Stoff reißen, würde die Treppe zerstören. Nichts scheint real, nichts materiell. Woraus aber fügt sich die rote Treppe? Ist sie letztendlich nur ein Gedankenkonstrukt?
Das Geländer, die Abdeckungen, all diese Details scheinen nicht zufällig gewählt. Es hat den Anschein als handele es sich hier nicht um irgendeine Treppe, sondern um eine ganz bestimmte. Stehe am Boden und sehne mich, aus dem traumähnlichen Zustand zu erwachen, die Grenze zum lichten Bewusstsein zu durchbrechen. Ich schließe die Augen und sehe in meinem Innern die aufsteigende Architektur, feingliedrig und transparent, wie sie in ein rotes Stoff-Meer mündet. In meiner Vorstellung gelingt es mir, die erste über dem Boden schwebende Stufe zu betreten und mich durch den engen Korridor zu winden. Kurz bevor ich an die Oberfläche dringe, öffne ich die Augen wieder, wähnend die Treppe möge verschwinden. Doch bleibt sie vielmehr unbeweglich. Als transluzides Gebilde, gewebt aus Träumen, ist sie materialisierte Erinnerung.
Was ist Heimat?
Eine Frage, die den 1962 in Südkorea geborenen Do Ho Suh in seinem Oeuvre immer wieder umtreibt. Der scheinbare Verlust von Heimat sowie Immigrationserfahrungen und dadurch bedingte Sprachlosigkeit sind tief in die Biografie des südkoreanischen Künstlers eingeschrieben. Die Übersiedlung in die USA zum Zweck der Fortsetzung seines in Südkorea begonnenen Malerei Studiums brachte Gefühle der Haltlosigkeit und einen daraus resultierenden Zwang zur Neupositionierung innerhalb eines zunächst fremdartigen Lebensumfeldes mit sich. Dabei spielte nicht nur die ortsspezifische Heimatlosigkeit eine Rolle, sondern insbesondere die kulturelle. Diametral gegeneinander stehende Konzepte von Individuum und Kollektiv in seinem Heimatland und seiner Wahlheimat trugen Konfliktpotenzial in sich und stellten ihn vor gänzlich neue Herausforderungen. Seine Werke „High School Uni-Face: Boy“ und „High School Uni-Face: Girl“ aus dem Jahr 1997, in welchen sich je 60 Porträts seiner ehemaligen KlassenkameradInnen zu Schulzeiten überlagern und so gemeinsam große, stereotype Bilder erzeugen, veranschaulichen die südkoreanischen Wurzeln seiner Identität und verdeutlichen den Zwiespalt zwischen fehlender Individualität und als positiv wahrgenommenem Gemeinschaftsgefühl. So wurde die Erfahrung vom Verlust der Heimat zu einem der Kernthemen seines Werkes.
In aufwändigen Verfahren bildet Do Ho Suh seine früheren Wohnorte bis ins kleinste Detail nach, so dass handgefertigte architektonische Installationen entstehen, die in ihrem transparenten Erscheinungsbild zugleich korporalisiert und immateriell wirken. Im Fokus stehen vermeintliche Zwischenräume, Korridore, Brücken und Treppen, die zwei Orte physisch miteinander verbinden und in unserer Erinnerung als Wege hinter den Destinationen zurückstehen. Indem Do Ho den Blick auf diese vergessen Orte lenkt, richtet er den Fokus auf die Reise selbst, die sowohl physisch als auch mental begangen werden kann. Die detailgetreuen Nachbildungen von Durchgangsorten, wie die Treppe seines Apartments in New York, welche seine Wohnung mit der des Vermieters verband oder die Aneinanderreihung der Korridore all seiner vorangegangenen Wohnungen, tragen Gefühle von neuer und wiedergefundener Heimat in sich.
Der Künstler betrachtet das eigene Zuhause dabei als ein zum Körper wie Kleidung gehöriges Utensil. Wie eine zweite Haut schmiegt sich der stetig umgebende Lebensraum, der Rückzugs- und Wohlfühlort, welcher einen in allen Umtrieben begleitet, schützend um die eigene Verletzlichkeit. Er geht sogar soweit, dass er all jene Wohnsitze – aktuell wie früher – als Teile seiner selbst beschreibt, als eine Art innere Organe, die als identitätstiftende Erinnerungen eine lebenswichtige Funktion innehaben. Do Ho Suh macht nicht Sichtbares sichtbar und findet eine fluide Antwort auf den Heimatbegriff, für das Nomadenleben in einer globalisierten Welt.
Kommentare
wunderbar beschrieben und ausgezeichnet erklärt, weiter so, Daumen hoch
Sehr interessant. Von dem Künstler habe ich noch nie was gehört, danke also hierfür. Das ist genau die Kunst, die mich begeistert. Und zum Nachdenken anregt. Ich freue mich auf mehr.
Spannender Artikel, vielen lieben Dank für die tollen Einblicke in die Welt der Kunst, selbst in dieser Krise 😊 Ich freue mich auf weitere Traumbilder 😁