Mit zunehmender Kälte schrumpfen auch die Räume für die Kulturschaffenden. In der Stadt angekommen, im Durcheinander des derzeitigen Alltags, bin ich auf dem Weg zu einem Spaziergang durch die Galerien.

Irina Ojovan: „Profile N20“ (2020). Foto: Julia Stellmann.

Ornamente, Säulen, Zierleisten erzählen von Architekturen, die sein könnten, deren Umrisse sich scharfkantig vorm dunstumrissenen Horizont abzeichnen und aus dem Füllhorn der Möglichkeiten schöpfen. Bunt aufleuchtende Bilder der Erinnerung steigen in nie geahnter Klarheit aus dem Meer der Indifferenz empor, bilden imaginäre Räume aus Kindheitstagen. Der Vater, Architekt, dessen Werkzeug Bleistift und Schablone sind. Das Kind unter dem Schreibtisch, das zu Boden gefallene Papierschnipsel, Fundstücke der im Kopf erbauten Architekturen, der präzise kalkulierten Utopien der Wirklichkeit, spielerisch aufliest.

Still sind sie, die Bilder, die die gedankliche Tiefenschärfe durchmessen und in wohl kalkulierte Vagheit münden. Sie fügen sich zu imaginierten Grundrissen mit klar abgegrenzten Kanten vor mal blassblauem, mal sattgrünem Farbhimmel. Manchmal bricht die Farbe aus, verläuft, bildet gewollte Krakelees. Im Vordergrund schablonenartig das Mitgedachte, die sichtbar gemachte Leerstelle, die eine zweite Ebene zur ersten bildet und sich durch ein scheinbares Dazwischen von eben dieser abzuheben vermag.

Irina Ojovan: „Profile A“ (2020). Foto: Julia Stellmann.

Im realen Raum dagegen, hier und dort, silbrig glänzende Papierrollen aus Aluminium, zum Monument erstarrte Scherenschnitte, hinein gefräst in die Gedankenräume. Immer wieder tauchen weitere Erinnerungen auf, an mediterrane Säulenarchitekturen, an die klaren Linien der Antike in der gleißenden Sommersonne. Es sind Bilder, Skulpturen, die von Architekturen sprechen, Bauwerke sichtbar machen, ohne sie je wirklich zu zeigen.

So wie sich der Ausstellungsraum der Galerie Cosar den interessierten BesucherInnen öffnet, eröffnen die Werke von Irina Ojovan neue Gedankenräume. Mit der mathematischen Präzision einer Architektin erbaut die aus Moldawien stammende Künstlerin imaginäre Gebilde aus durch Negativformen evozierten Versatzstücken, durchmisst mit gedanklichen Schablonen den Raum.

Irina Ojovan: „Blick in die Ausstellung ‚Inherited Profiles’“ (2020). Foto: Julia Stellmann.

Imaginierte Bauwerke also, wie im Moment auch die Museen imaginierte Architekturen sind, die da sind, deren Umrisse wir sehen, aber in deren Räume wir nur gedanklich eintauchen können. Was ist aus der Diskussion um dritte Orte geworden, frage ich mich. Sollten Museen doch ähnlich wie Bibliotheken neben dem Zuhause und der Arbeit einen Ort des gesellschaftlichen Diskurses bilden. Diese Orte sind nun geschlossen und Galerien bleiben geöffnet. Sicher, es geht um wirtschaftliche Existenzen und es sind wichtige Räume, in denen die Kunst sichtbar bleibt. Aber geht es bei geschlossenen Museen nicht um unser aller Existenz? Die Existenz unserer Stadtgesellschaft?

Esther Kläs: Blick in die Ausstellung: „Riesenchance“ (2020).

Bei der Galerie Kadel Willborn angekommen, klingele ich, die Galerie wird aufgeschlossen und mir wird Einlass gewährt in einen Wald aus Werken, die wie Runen, Symbole, Fragmente vergessener Erzählungen anmuten. Fast religiös aufgeladene Fundstücke laden zum Spaziergang ein. Bronze, die ledrig wie Tierhaut wirkt, zu Papier gebrachte Landkarten des „Vielleicht“. Zeichen, die sich zu einer Sprache zusammenfügen, erzählen vom Heute, vom Morgen, mit Rändern, unscharf wie die verblassender Erinnerungen.

„Riesenchance“ ist der Titel der Ausstellung. Ein Titel, der zur sprachlichen Negativform wird. Eine Ausstellung, die einen Möglichkeitsraum eröffnet und zugleich verpasste Chancen inkludiert. Das „was wäre, wenn“, der zufällige oder schicksalsgetriebene Schritt in diese oder jene Richtung. Dieser eine Moment, in dem die Dinge eine andere Gestalt annehmen, sich in ihrer Form verändern. Mit dem Schritt in die Galerie betreten wir, labyrinthisch angelegt, einen Raum der Möglichkeiten, in dem alles gewesen ist und alles sein könnte. Welche Richtung wir auch immer einschlagen, es eröffnen sich stetig neue Perspektiven, neue Blickwinkel, die in eine neue Sicht auf die Welt münden.

Esther Kläs: „A (1)“ (2020).

Keine einzelne Arbeit lässt sich in Esther Kläs Werk herausgreifen, ist sie doch einem Ensemble zugehörig, Teil einer dynamischen Gruppenskulptur. Kläs fordert uns auf, den Raum selbst zu erkunden, ihn zu vermessen und ihre Werke als Instrumente dafür zu nutzen. Obwohl einzelne Schritte willkürlich getan werden, setzen ihre Werke eine gewisse Choreografie voraus, in der wir uns durch die schmalen Pfade zwischen den einzelnen Arbeiten bewegen. Diese verweist auf ein körperliches Bewegungsgedächtnis, zumeist im Unbewussten verschüttet, von definitorischer Unschärfe bestimmt.

Esther Kläs: „Riso (v)“ und „Riso (b)“ (2020).

Auf dem Rückweg fällt mein Blick in fremde Häuser, fremde Fensterscheiben. Suchend ohne tatsächlich zu suchen, bin ich für einen kurzen Moment Teil des Raumes, Teil des Geschehens, ohne wirklich Teil zu sein. Echte Räume werden zu imaginierten Lebensräumen. Kurz gibt es kein Außen, kein Innen, bevor sich das eine vom anderen wieder scharf abgrenzt und ich im Außen verbleibe, zurückgeworfen ins Ungewisse.

Scharf abgegrenzte Äste vor blassblauem Stadthimmel. Foto: Julia Stellmann.

Titelbild: Irina Ojovan: „Profile C“ (2020). Foto: Julia Stellmann.

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