Hinter geschlossene Augenlider dringt farbiges Licht, hell und dunkel legt es sich vor die blinde Iris. Nicht nur ich warte auf mein Erwachen, auch die Welt ist noch ungeboren, im Werden begriffen. Im Nichts herrscht Chaos, ein lebendiges Durcheinander, das noch nicht weiß, zu welcher Form es finden wird. In Aufruhr geratenes Etwas, in unaufhörlicher Anziehung und Abstoßung begriffen, häuft es sich an, sammelt es sich im kleinsten Kern zur Quelle größter Kraft. Eine ursprüngliche Macht, energetische Dichte, entlädt sich im kosmologischen Weltanfang, begründet die Geburt allen Seins. Aus dem Nichts entstanden, regt sich ein Band aus materialisierter Farbe, wirbelt durch die Luft, manifestiert sich im Farbraum, der sich zum realen Raum erhebt. Raum, Zeit und Sein bilden sich aus bunter Farbvielheit heraus, nehmen Form an in lichter Dunkelheit. Weiches Schimmern fällt auf schattigen Farbgrund und erleuchtet einzelne Fasern, die sich im Flug bewegen, im Fall auseinanderdriften. Gleich einem Vogel vor dunkelgrünem Farbdickicht, der seine Schwingen ausbreitet und sich als evolutionäres Wunderwerk aus dem Chaos emporhebt. Ein Objekt wie ein Wurfgeschoss, zufällig ins Schlaglicht der Geschichte geraten, tanzend vor magisch dunklem Grund. Aus Urkraft geformte Dinglichkeit, ein Riss in der Atmosphäre, wird zum dramatisch in Szene gesetzten Subjekt. Das flatternde Band lässt sich treiben so wie wir uns im Angesicht des nie gesehenen Schauspiels auf dem Strom der Zeit treiben lassen. Indem wir uns auf die stofflich gewordene Farbschliere zubewegen, nah genug herantreten, tauchen wir ein in ein ganzheitliches Erleben, in die immersiven Farbwelten des Künstlers Hubert Scheibl.

Hubert Scheibl: „Vielen Dank für das sehr unterhaltsame Spiel“ (2001: Odyssee im Weltraum), 2007/08, Öl auf Leinwand, 180 x 120 cm. Foto: Christian Schindler.

Milliarden Jahre formten nahe und ferne Galaxien, die aufeinander zurasen und zugleich voneinander fortstreben. Licht längst verloschener Sterne durchquert die Ewigkeit und erzählt vom Anbeginn der Zeit. Die Augenlider nun weit aufgerissen, alles sehend und nichts begreifend, wende ich den Blick vom Außen ins Innen. Aus vorzeitlichen Untiefen regt brodelnd sich die flüssige Lebenskraft der Erde, der Boden reißt auf, Schicht um Schicht steigt Silberfarbe wie Lava an die Oberfläche empor. Die Epidermis der Erde, die oberste Schicht, ist in Bewegung geraten, ruhte bisher auf pulverisierter Ewigkeit, auf der Erscheinungsform vergangener Tage. Ein wilder Strudel aus Erdtönen steigt aus der Tiefe auf, die ich erst zu unterscheiden vermag, als sich die Finsternis in der Dunkelheit lichtet. Aufgeworfene Oberfläche, Schürfwunden, die bis tief in die unteren Ebenen vordringen, Vergangenes freilegen, Verborgenes sichtbar machen. Mit seismographischem Feinsinn erspürt der Maler kleinste unterirdische Erschütterungen, zeichnet sie auf, birgt sie aus finstrer Untiefe. Innerlich lege ich meine Hand auf die in Bewegung geratene Oberfläche, spüre die vom Geröll verschütteter Zeiten herrührende Vibration einer fernen Kraft. Eine Kraft, die Erdplatten verschiebt, Vulkane entstehen lässt, Berge in Täler verwandelt und Täler in Berge. Silbrig glänzend tropft die Ursuppe ins Bild, bahnt sich ihren Weg, bestimmt von geführtem Zufall und zufälligem Ergebnis. Mir scheint als sei ich versehentlich zu Bewusstsein gelangt. Frage mich, ob nicht an meiner statt jedes andere Ding in der Welt zufällig ein Bewusstsein hätte entwickeln können. Und bin mir sicher, ich bin Erde wie die Erde selbst, werde, vergehe und blute mit ihr. Steht es mir zu, anderen Geschöpfen ein Bewusstsein abzusprechen? Was ist mit Maschinen, vom Menschen erschaffen, die uns im Spiel besiegen, eigenständig lernen? Sind sie nicht Menschen wie die Menschen selbst?

Echo Lake
Hubert Scheibl: „Echo Lake“, 2017/18, Öl auf Leinwand, 150 x 120 cm. Foto: Klaus Michalek.

Ich richte meinen gesenkten Blick, der vergangene Zeiten, die Zeit selbst durchwanderte, nun nach vorne. Hinter farbigen Schieferbergen verschwindet vor glühend rosa gefärbtem Himmel die Sonne, verbirgt sich schattenumrissen jenseits des Horizonts. Ist dies der Moment bevor ein neuer Tag anbricht oder senkt sich bereits die abendliche Dämmerung über die Welt? Ist das der Anfang oder das Ende?

Cave Painting
Hubert Scheibl: „Cave Painting“, 2019/20, Öl auf Leinwand, 200 x 290 cm. Foto: Christian Schindler.

Das Werk des österreichischen Künstlers Hubert Scheibl (*1952) lässt Raum und Zeit aus einem vor-dinglichen Zustand reiner lichtgebrochener Atmosphäre entstehen, ist vom farbigen Urstrom durchpulst. Schwebende Objekte geschleudert in den Farbäther, Farbe, die sich aus Farbe gebiert. Seine Gemälde erzählen von der Geste, vom kraftvollen Wurf der Farbe in den Raum. Als Ausdruck des körperlichen Akts manifestiert im Farbauftrag feiern sie die Sinnlichkeit des Materials. Ähnlich der im letzten Beitrag besprochenen Ausstellung „Bonds“ in der Schwartzschen Villa steht auch hier die Sinnlichkeit als energetische Kraft im Fokus der Betrachtung. Scheibl aber versteht Sinnlichkeit als Inbegriff von Farbe, der eine ganz eigene Form von Erotik innewohnt. Farbschlieren erhalten in ihren Verwerfungen, in ihren Windungen und Schleifen etwas Körperliches, etwas Materielles, das als organisches Gebilde räumliche Qualitäten annimmt. Ein Pinselstrich wie ein Flatterband, das durch den Raum zu Boden schwebt, sich für einen Augenblick der Schwerkraft widersetzt. Umgeben von einem Raum aus Farbe, der so real ist, dass Licht und Schatten es vermögen sein Erscheinungsbild zu verändern. Vergleichbar mit Werken seines Lehrers Arnulf Rainer finden sich bei Scheibl vielfältige Überlagerungen. Jedoch türmen sich bei ihm eigene Bildteile, wachsen organisch heran bis sie in der Tiefe zehn oder fünfzehn Schichten messen. Je näher der Betrachter an die Gemälde herantritt, desto augenscheinlicher offenbart sich ihm die Vielschichtigkeit und daraus resultierende Tiefe der kristallinen Farbarchitekturen. Farbverdichtungen bedecken den gesamten Malgrund, kein Stück der Leinwand bleibt unbemalt. Versunken in der Betrachtung lösen sich die überlappenden Schichten, die unser Blick wie die äußere Rinde alter Bäume herunter schält, jeder freigelegte Baumring Ausdruck vergangener Wachstumsphasen. Stück für Stück dringen wir bis zum unter versteinerter Kruste liegenden Mark vor, entfalten sich vor unseren Augen die formalen Überlagerungen auch inhaltlich. Tief unter der Oberfläche nun fühlen wir den klebrig-goldenen Lebenssaft, den inneren Treibstoff des Werdens, meinen das Geheimnis des Seins zu ergründen und legen es doch nie gänzlich frei.

Hubert Scheibl: „Nicotine on Silverscreen“, 2017/18, Öl auf Leinwand, 180 x 120 cm. Foto: Klaus Michalek.

Aus Pinsel, Spachtel und Rakel fließt eine pure energetische Kraft, die sich auf die Leinwand ergießt, kurz innehält im brausenden Farbsturm und uns einen Blick auf die Triebwerke der Welt gewährt. Große Formate lassen uns in die Farblandschaften eintauchen, uns eins mit der Farbe werden. Die Gemälde erzählen von ihrem raschen Entstehungsprozess, von der Gleichzeitigkeit ihres Werdens, von evolutionärer Nass-in-Nass-Malerei. In komponierte Pinselstriche, Farbverläufe findet der gerakelte Zufall Einlass ins Bild. Was ist Zufall, was Bestimmung? Choreographierte Farbgewalt bricht aus dem kosmischen Dunkel.

Hubert Scheibl: „Nicotine on Silverscreen“, 2011, Öl auf Leinwand, 290 x 200 cm. Foto: Johannes Stoll.

Zähflüssig perlen glänzende Silberbäche von oben ins Bild, verlaufen, formen tropfenförmige Farbnasen. Metallisch schimmernd nehmen sie das Umgebungslicht auf, spiegeln die Wirklichkeit, leuchten aus sich selbst heraus. Es gibt Bilder, die in der Natur verortet scheinen und andere, welche uns in das staubige Antlitz der Metropole blicken lassen. Schnell verirrt sich unser Blick im Schneesturm, im weißen Wirbel, dem städtischen Dunst. Umhüllt von Farbnebel, tappen wir im Dunklen. Hören die gedämpften Stimmen der Welt und sind uns unsicher, ob sie uns entgegenkommen oder von uns weichen. Anmutungen von dunklen Tannenwipfeln, von Türmen in weiter Ferne verwandeln die Leinwand in einen magischen Ort, einen Ort der dunklen Romantik, des geraunten Märchens. Irrlichternd durchwandern wir den Nebelschleier, begehen die Untiefen des inneren Farbrausches. Ein fernes Sehnen, ein leises Hoffen liegt in den zuweilen an Caspar David Friedrich erinnernden Farblandschaften. Scheibl versucht über die Grenzen des Sichtbaren hinauszugehen, tritt ins Schneegestöber der reinen Farbe, die bestehen bleibt, wenn sich das vorzeitlich Unbewusste lichtet. Die Bilder wechseln zwischen Fläche und Raum, zweidimensionale Formen werden zu Körpern. Erst wenn sich unser Auge an die bildgewordene Realität gewöhnt hat, erkennen wir in der zunächst unauslotbaren Oberfläche amorphe Gebilde. Die Werke stellen sich gegen die reine Abstraktion. Immer wieder regen sich dingliche Anmutungen aus der Farbtiefe, sind eruptive Kräfte auf der Suche nach fester Form. Es sind Bilder, die nichts abbilden, nichts darstellen und den Betrachter trotzdem in Assoziationsketten hüllen, mit ihm in wechselseitigen Dialog treten. Alchemistische Gemälde und fragile Plastiken fügen sich zu einer vorgeschichtlichen Weltdeutung, die gleichsam fantastisch und forschend ist.

Hubert Scheibel: „Hard 2 B one“, 2018/2019, Pappe, Holz, Metalldraht, Eisensockel, 175 x 60 x 60 cm. Foto: Christian Schindler.
Ausstellungsansicht „Shrinking Vienna“. Foto: Roman März.

In sinnes- und raumgreifenden Werken entspinnen sich überlagernde Narrative, fügen sich Farbklänge wie Noten aneinander, bilden zarte Tongeflechte, die es freizulegen, zu entschlüsseln gilt. Eine ursprüngliche Kraft versetzt die Bilder in Schwingung, lässt sie klingen und komplexe Harmonien ertönen. Mit den Augen lauschen wir den Farbkompositionen, ihrer inhärenten Melodie, einer Symphonie abstrakter Malerei. Glauben wir in den Gemälden zunächst nichts als ungegenständliche Leere zu erkennen,  erschließt sich uns bei genauer Betrachtung eine Ordnung im Chaos, die Leere als nicht länger unbelebt. Das Urchaos lichtet sich und lässt uns als körperlose Wesen durch die Zeit reisen, den Ursprung unserer selbst ergründen.

Hubert Scheibl: „Ones“, 2018/2019, Öl auf Leinwand, 120 x 100 cm. Foto: Christian Schindler.

Und wenn wir uns bereits in den Windungen der Pinselstriche verirrt haben, fügt Scheibl mit den Titeln seiner Gemälde eine weitere Bedeutungsebene hinzu. Die Malerei, deren Tod von den Auguren der Kunst so oft prophezeit wurde, wird hier mit dem bestimmenden Medium des 20. Jahrhunderts verknüpft. Filmische Anspielungen in Form von Zitaten großer Kinoklassiker bieten einen anderen Zugang zum fluiden Schatz, dem kollektiven Gedächtnis der Menschheit. Filme zeitloser Geltung werden zum Kompass, der uns den Weg durch die in wildem Wechsel begriffenen Hoch- und Tiefebenen der legendenlosen, aber mythenumwobenen Farbkarten weist.

Ausstellungsansicht „Shrinking Vienna“. Foto: Roman März.

Das Gutshaus Steglitz in Berlin präsentiert Hubert Scheibl in seiner zweiten institutionellen Einzelausstellung in Deutschland. Im Gegensatz zu seiner umfangreichen Ausstellung im Belvedere in Wien 2016/17, in welcher seine Gemälde selbst wie schwerelose Flugobjekte in den Raum hineinragten, taucht das denkmalgeschützte Gebäude die Bilder nun in eine neue Farbatmosphäre. Das Kolorit der Wände spiegelt sich in der stanniolartigen Oberfläche der Gemälde, verändert in der Verflechtung mit dem Raum deren Erscheinungsbild und wird Teil des innerbildlichen Aneignungsprozesses. „Shrinking Vienna“ nimmt mit dem Titel Bezug zur aktuellen Situation, in der die Welt, auf ursprüngliche Instinkte zurückgeworfen, wieder näher zusammenrückt.

Ausstellungsansicht „Shrinking Vienna“. Foto: Roman März.

„Shrinking Vienna“ kuratiert von Frau Dr. Brigitte Hausmann: bis 29. November 2020 im Gutshaus Steglitz, Schlossstraße 48, 12165 Berlin. Geöffnet: Mo–So 10–18 Uhr. Eintritt frei.

Titelbild: Hubert Scheibl: „Ones“, 2018/2019, Öl auf Leinwand, 180 x 120 cm. Foto: Klaus Michalek.

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