Erwache aus dunklen Träumen in dunklen Seelenräumen, die einzig Schutz mir bieten in totgeglaubter Realität. In asphaltgrauer Pflastersteinlandschaft dehnt sich auf ewig weiter Fläche mit dem Raum die Zeit, in der mein Auge tastend sucht nach dem Ende des Horizonts, der Begrenzung der Welt. Mein Blick will ihn streifen, über weite Flure schweifen, bis er droht über den Weltenrand hinauszustürzen. Doch kein Hindernis versperrt den Weg, keine Barriere, die dem Freiflug trotzt. Mit Schrecken stell ich fest, der Horizont reicht bis in die Unendlichkeit hinein und darüber hinaus. Fühl mich schutzlos auf endlos weiter Ebene, vielleicht von weither schon erspäht. Will mich verkriechen in schutzspendender Hülle, Zuflucht suchen, doch der Rückzugsort ist’s, der mich verrät. In trügerischer Sicherheit wiegt mich der finstre Ort. Drängt mich einzukehren, doch suche Einlass stets vergebens. Einzig der Schornstein ist ein Tor ins Innere des Hauses. Dorthin nur strebt das dunkelgrüne Laub, kriecht als Unheil von hinten übers Dach nach vorne, breitet sich stillschweigend aus wie eine Hand, die ungesehen Besitz ergreift. In schattenloser Weite, algorithmisch generierter Welt, ist mein Körper fremd. Schwarze Wände, denen dunkles Grausen innewohnt, tausend Augen auf mir ruh’n. Und ich bin allein in dieser Welt, kann nicht vor und nicht zurück, bin gefangen, außen so wie innen.
Eine scheinbar perfekte Welt, glatt und makellos, erbaut im luftleeren Raum. Leergeräumte Architekturen scheinen zu schweben, monumentale Landschaften entbehren jeglicher menschlichen Existenz. Der Fotokünstler Josef Schulz (*1966) sucht mit scharfem Auge nach Objekten klarer Schönheit, enthebt sie ihrer realen Erscheinungsform, um sie auf ihre Ursprungsform zurückzuführen. Gedimmte Wirklichkeit bricht die Architekturen auf ihren Kern herunter, auf Farbe, Fläche und Form. Undurchlässig, blockartig, abgeschlossen vom Leben bezeugen sie menschliches Dasein und negieren es zugleich. Klar gegliedert wie Architekturmodelle und doch verliert die dargestellte Realität ihren Modellcharakter, wenn sich die Wirklichkeit aus ihrem Nebelschleier befreit. Nie gänzlich, sondern immer unmerklich als Irritation, als fernes Drohen, als leises Schaudern, in die Fotografien zurückkehrt. Wenn Gebäude fensterlos bleiben oder Fenster Ausblick in tiefe Schwärze gewähren, wenn die Nacht ins Bild bricht und Gebilde kontextlose Schatten werfen. Wenn der Putz von den Wänden bröckelt, die Gebäude tot von Leben zeugen, von Verlust erzählen und viel zu perfekte Wälder, Berge die Abwesenheit des Menschen feiern, in alte Reinform zurückgebracht.
Schulz ist Meister der bildnerischen Reduktion auf dingliche Grundformen, auf die Kernelemente eines Objektes. Obwohl die Architekturen zumeist in der Natur verortet sind, wirken sie steril und fernab jeglichen naturnahen Raums. Schulz sucht innerhalb der Serie „Formen“ (seit 2001) gezielt nach seinen Motiven und doch scheint es, als finden sie ihn so wie er sie findet. Die Serie zeigt besondere Architekturen, raffinierte Formen, stellt deren Schönheit heraus, deren erhabenen Minimalismus. Geschwungene Straßenzüge winden sich fast tänzerisch, finden in rhythmischen Schlaufen zueinander, bilden weite Bögen bis zum Horizont. Zylindrische Körper erinnern an italienische Architekturen, deren zahllose Tore Einlass gewähren in fensterlose Dunkelheit. Der Säulengang der Rotunde lässt unseren Blick in geheimnisvolle Innenräume schweifen, in babylonischen Höhen verweilen und bleibt zugleich innerlich wie äußerlich verschlossen. Der Titel ist Programm, wenn Form aus Form erwachsen scheint, die sich zu idealen Bauten fügen, wie auf dem Reißbrett angefertigt, im luftleeren Raum konzipiert. „Formen“ zeigt Monumente der Menschheit von zeitloser Stabilität losgelöst von ihrem menschlichen Ursprung.
Die seit 2001 im Entstehen begriffene Serie „Sachliches“ hebt die nüchternen Formen industrieller Zweckbauten in Hochglanzoptik in den Fokus der Betrachtung. Bunte Hallenarchitekturen durch horizontale und vertikale Elemente geprägt, reihen sich als geschlossene Quader blockartig aneinander. Geometrisch perfekte Bauten, versatzstückartig angeordnet, erinnern an Fotografien von Frank Breuer, aber werden bei Schulz ihrem industriellen Kontext enthoben. Sorgfältig ausgewogene Bildkompositionen entstehen, wenn farbige Flächen sich ineinanderfügen, einander rhythmisch verstärken. Wie in Gemälden, abstrakten Kunstwerken, reihen sich die farbigen Elemente aneinander, erinnern an amerikanische Farbfeldmalereien. Das scheinbar Profane wird hier zum darstellungswürdigen Motiv erhoben fernab jeglicher Funktion. Die umgebende abstrahierte Natur wird dabei zum Beiwerk, zum Rahmen für die Architektur.
Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein in „Übergang“, einer zwischen 2005 und 2008 entstandenen Serie, welche die Überbleibsel innereuropäischer Grenzübergänge ins Bild rückt. Putz bröckelt von der Decke, die Wände zeigen Spuren der Witterung, standhielten sie, trotzten dem Wandel der Zeit. Innereuropäische Begrenzungen, die zur Zeit der Dokumentation ihrer Funktion enthoben waren, als stille Mahnmale das verkörperten, was uns einst trennte, uns stocken ließ auf der Reise. Schulz zeigt sie verlassen, menschenleer, wie in Nebel gehüllt ragen sie skulptural aus dem Schleier der Vergangenheit hervor. Als Kadaver europäischer Trennlinien liegen sie brach da, ausgeweidet, ihrer ursprünglichen Funktion beraubt. Schulz, gebürtig aus Polen, hat diese Grenzerfahrungen noch selbst erlebt, die er nun als zeitgeschichtliche Dokumente auch jüngeren EuropäerInnen zugänglich machen will. Durch Schengen und die Reise- und Warenfreiheit 2004 schwanden die Grenzen, wurden zu abstrakten, fiktiven, rein gedanklichen Konstrukten. Weniger sichtbar, aber immer noch unverändert an Ort und Stelle. Damals aufgrund des dokumentarischen Wertes und einer melancholisch anmutenden Ästhetik des Verfalls entstanden, ist die Serie heute aktueller denn je. Sind unsere Grenzen tatsächlich so offen wie sie scheinen, wenn Tausende im Angesicht der geographischen Grenzen Europas ihr Leben verlieren und Geflüchtete von den europäischen Staaten wie Waren wechselnd einander zugeschoben werden? Zugleich haucht die aktuelle Pandemie den verlassenen Grenzstationen auf befremdliche Weise neues Leben ein. Eine Rückbesinnung auf die Nationalstaaten lässt das größte Friedensprojekt aller Zeiten, Europa, in den Hintergrund rücken und stürzt unseren Zusammenhalt in eine tiefe Krise. Was hier aus schemenhafter Unschärfe hervorsticht, wird erneut zum Stachel im Fleisch der europäischen Einheit.
Als ähnlich gearteter Grenzfall sind die zwischen Landschaft und Architektur verorteten Arbeiten der Serie „Terraform“ (2007-2008) zu verstehen. Monumentale Felsformationen erwachsen aus bewaldeten Anhöhen, ragen scharfkantig in den Himmel, um schließlich schneebekrönt in bleigraue Wolkenberge zu münden. Schroffe Höhenzüge, deren raue Struktur die ledrige Haut der Berge bildet, sind Zeugen längst vergangener Zeiten. Reich bewaldete Gebirgskuppen, deren Körper im Wasser verborgen liegen, deren Häupter als Inseln aus dem Meer drängen, bilden schwimmende Sehnsuchtsorte von goldglühendem Himmel hinterfangen. „Terraform“ zeigt Landschaft wie Architektur, Felsformationen als von den Kräften der Natur erbaute Monumente. Die Berge und Täler bieten keinen Anhaltspunkt, kein Größenverhältnis. Ehrfurchtsvoll finden wir uns in stiller Kontemplation begriffen vor formvollendet materialisierter Kraft wieder. Sind winzig im Angesicht der Größe der Natur, in der unser Blick zunächst die Gipfel stürmt und dann ins Bodenlose stürzt. Naturelemente werden hier fokussiert ins Bild gerückt, sind frei von jeglicher menschlichen Besiedlung in den Urzustand zurückversetzt. Als überzeitliche Phänomene über den Menschen erhaben, wird uns aufgrund der fehlenden Spuren zivilisatorischer Eingriffe nicht nur die Gefährdung der Natur durch den Menschen bewusst, sondern in besonderem Maße auch die Gefährdung des Menschen selbst durch eigens verschuldeten Klimawandel. Die Natur rechnet in anderen Zeitspannen, wird uns überdauern, eines Tages verändert sein, aber in veränderter Form fern von menschlichen Eingriffen existieren. Wir aber sind von ihr abhängig, von der lebensfreundlichen Atmosphäre, dem Realität gewordenen Arkadien. Schutz der Natur ist letztlich nur Schutz menschlicher Existenz.
Immer wieder bricht die gedimmte Wirklichkeit mit Nachdruck zurück in die Bilder von Josef Schulz, schleichen sich Narrative scheinbar unbemerkt in den dokumentarischen Blick hinein. Leere Werbetafeln in Signalfarben setzen sich in „Sign Out“ (2009) leuchtend vom blassblauen Himmel ab. Sachliche Formen verbinden sich mit formaler Klarheit zu skulpturaler Schönheit. Sie bieten Leerräume, Spielräume für erdachte Inhalte, lassen uns Werbebotschaften längst verstummter Firmen imaginieren. Leerstellen, die von Stillstand, Stagnation, zerbrochenen Existenzen erzählen. Dort wo einst die Markenversprechen florierender Unternehmen prangten, blicken wir nun dem Nichts entgegen. Schulz setzt in „Sign Out“ die Inhaltsleere programmatisch ins Bild und lässt sie uns sogleich überwinden. Auch der Titel fügt als Gegenteil zu sign in eine weitere Bedeutungsebene hinzu. So wie wir uns auf Websites, in Netzwerke einloggen, loggen sich die insolventen Firmen aus dem wirtschaftlichen Kreislauf aus. Sinnbildlich für den durch die Wirtschaftskrise 2008 bedingten Leerstand in den Geschäften stehen die Werbeflächen als Mahnmale für der Krise zum Opfer gefallene Unternehmen.
Ähnlich der verlassenen Geschäfte, deren Schaufenster mit Spanplatten zugestellt sind. In gleißendem Mondlicht zieht der dunkle Nachthimmel heran, baut sich drohend im Hintergrund auf. Längst nicht so verfallen wie die Grenzübergänge warten sie ähnlich wie diese auf einen neuerlichen Einsatz und sind doch bereits überschrieben von den Zeichen der Zeit, den Graffiti an den Wänden. „Poststructure“ (2010-2012) nimmt uns mit auf eine Reise durch die USA in verarmte Bundesstaaten, zumeist republikanisch, welche von der Krise besonders nachhaltig getroffen wurden. Die Serie lässt die Folgen der Weltwirtschaftskrise in den USA spürbar werden und zeigt tote Innenstädte, Geisterstädte, deren prosperierender Gürtel sich nach außen zu den Vororten verschoben hat. Der fotografische Effekt American Night lässt das Tageslicht dabei wie Mondlicht wirken und erzeugt eine unheimliche Atmosphäre, die an Hitchcock Filme erinnert. Wie die Akteure in einem Hopper Gemälde warten die verlassenen Gebäude auf neuerliche Belebung und sind doch im Auge des Sturms gefangen.
Josef Schulz nutzt mit analytischem Blick die Grundstruktur der Dinge, um aus der äußerlichen Basisform den ihnen immanenten inhaltlichen Kern herauszuschälen, Stück für Stück die äußeren Schichten abzutragen. Ausgehend vom Haus als Grundgedanken in Verbindung mit der Natur als bildgebendem Raum kreiert Schulz neue Welten, in denen das Objekt zum skulptural anmutenden Bildinhalt erhoben wird. Dabei löst er sich von der konzeptionellen Strenge seiner ehemaligen Lehrer Bernd und Hilla Becher, indem er sich zwar einem seriellen Charakter verpflichtet fühlt, die dargestellten Objekte jedoch mithilfe von digitalen Bildbearbeitungsprogrammen freier interpretiert, ähnlich seinem Professor Thomas Ruff. Seine Werke sind nie redundant, sondern nehmen in ihrer surrealen Anmutung stets neue Sichtweisen ein. Schulz bedient sich dabei der Großbildkamera, deren Abzüge er einscannt, um sie digital zu bearbeiten, so dass eine weiche gebrochene Körnung entsteht. Er schafft kein Abbild der Realität, sondern bricht ein Objekt auf den Kern seiner selbst herunter, um es folgend einer digitalen Verdichtung der eigenen Aussage zu unterziehen. Die offensichtliche Distanz ist nur dem Anschein nach vorhanden, stattdessen legen die Fotografien Form wie Inhalt der Objekte frei, dringen bis tief unter die Oberfläche. Auf den ersten Blick kalt, leblos, von überzeitlicher Eleganz, erschließt sich auf den zweiten Blick deren Tiefe, die voll zeitgenössischer Erfahrungen ist. Erst in der Manipulation der Wirklichkeit wird diese sichtbar.
Das 2019 eröffnete Kunstforum Hermann Stenner in der klassizistischen ehemaligen Villa Weber in Bielefeld präsentiert sich mit der Ausstellung „Josef Schulz: Spectrum. Architektur. Landschaft. Fotografie“ auf neuartige Weise, indem nun nach Klassischer Moderne und Bauhaus der Fokus auf zeitgenössische Fotografie gelegt wird. Anknüpfend an Utopie und Wirklichkeit in den Werken von Johannes Itten erweitert das Haus seine programmatische Ausrichtung um eine zeitgenössische Perspektive und rundet die Ausstellung mit einem neuen Werk von Josef Schulz, einer Hommage an die Goldbeck Stiftung, den Träger des Forums, ab.
„Josef Schulz: Spectrum. Architektur. Landschaft. Fotografie“: bis 17. Januar 2021 im Kunstforum Hermann Stenner, Obernstraße 48, Bielefeld. Geöffnet Mi.–Fr. 14–18 Uhr, Sa.+So. und an Feiertagen 11–18 Uhr. Eintritt: 6 Euro, ermäßigt 4 Euro.
Titelbild: Josef Schulz: „Form #1“, 2001, C-Print, 120 × 160 cm, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020.
Kommentare
Es ist wirklich schön zu lesen, wie Sie tief in die Kunstwerke eindringen und etwas zum Vorschein bringen, was den Betrachter ausgesprochen fesselt. Vielen Dank dafür.